Bestimmung


             
       
 
 
       
       
 
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Die Vieldeutigkeit des Wortes „Stil“  erfordert sei­ne strenge Abgrenzung gegen die Fachausdrücke „Sprache“ und „Rede“. Wenn wir unter Sprache eine spezifische Struktur, ein System von lexischen , grammatischen und phonetischen Mitteln verstehen, das zur Verständigung im Gesell­schaftsverkehr dient, so stellt die Rede die Verwendung des sprachlichen Zeichensystems in konkreten Sprech- und Schreibakten dar. Rede,  ist demnach sprachliche Äußerung (Information) zu bestimmten Mitteilungszwecken in bestimmter Sprechsituation.

ApfelDie Tatsache, daß die Sprache ganz verschiedenen und immer komplizierteren Sphären der menschlichen Tätigkeit als wichtigstes Verständigungsmittel dienen muß, führt zwangläufig zur Vervollkommnung ihres Systems, zu einer funktionalen und expressiven Differenzierung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten.

Die Art und Weise, wie die sprachlichen Möglichkeiten in konkreter Rede gebraurnt werden, bezeichnen wir als "Stil". Stil ist also, auf die kürzeste und allgemeinste Formel gebracht, die Verwendungsweise der Sprache im Sprech- und Schreibakt — ein System von Gesetzmäßigkeiten der Ausdrucksgestaltung.

Diese Definition kann sich auf zwei Stilbegriffe beziehen: auf den Individualstil des Menschen und den sog. funktionalen Stil . Unter dem funktionalen Stil verstehen wir die historisch veränderliche, funktional und expressiv bedingte Verwendungsweise der Sprache auf einem bestimmten Gebiet menschlicher Tätigkeit, objektiv verwirklicht durch eine zweckentsprechend ausgewählte und gesetzmäßig geordnete Gesamtheit lexischer, grammatischer und phonetischer Mittel.

Der Name „funktionaler Stil“ weist darauf hin, daß aus dem allgemein zu Gebote stehenden Arsenal der Nationalsprache gerade jene Wörter und Wendungen, jene morphologischen Formen, syntaktischen Konstruktionen und Intonationsvarianten ausgewählt und zu einer Gesamtheit vereinigt werden, die zur Erfüllung einer bestimmten Mitteilungsfunktion auf einem bestimmten Gebiet des schriftli chen .oder mündlichen Verkehrs besonders geeignet sind. (Obzwar die funktionale Differenzierung der Sprache unlösbar mit der expressiven verbunden ist, wird der terminologischen Einfachheit wegen in der Bezeichnung des Stilbegriffs hur das grundlegende funktionale Moment der Sprachverwendung festgehalten).

Die funktionalen Stile sind bestimmten zeitlichen Veränderungen unterworfen. Mit der Entwicklung der Gesellschaft sterben alte, überflüssig gewordene Verwendungsweisen der Sprache ab, entstehen neue Formen des Gesellschaftsverkehrs mit erweiterten neuen Aufgaben. Auch in den Stilen, die eine ganze Reihe von Epochen hindurch bestehen, gehen gewisse Veränderungen vor sich, teils in ihren sozialen Aufgaben, teils in ihrer sprachlichen Gestaltung.

Zwischen den einzelnen Stiltypen, die sich mit der Zeit im Rahmen der Nationalsprache herauskristallisieren, gibt es keinerlei Kluft. Zwischen ihnen knüpfen sich vielmehr die verschiedensten Verbindungsfäden an; je mehr funktionale Verwendungsweisen der Sprache entstehen, desto häufiger wird ihre Kreuzung und gegenseitige Verflechtung.

In welchem Verhältnis stehen Sprache, Rede und Stil zueinander? Daß Stil, gesondert von Sprache und Rede, undenkbar ist, darüber besteht kein Zweifel. Schwerer fällt die Antwort auf die umgekehrte Problemstellung: Ist jede mehr oder minder geschlossene sprachliche Äußerung, d. h. jede Rede auf jedem Gebiet menschlicher Tätigkeit, irgendeinem Stiltyp zugehörig? Im vorliegenden Buch wird die Meinung vertreten, daß jede geschlossene Rede, sei sie schriftlich oder mündlich, im offiziellen oder privaten Verkehr, Stilmerkmale hat, die sie in diese oder jene gesetzmäßig geordneten, mehr oder weniger fest genormten Stiltypen eingliedern lassen . Der Sprecher muß sich der stilistischen Eigenheit seiner Rede durchaus nicht bewußt sein, Wahl und Verwendung der einzelaen Sprachmittel kann halbautomatisch oder sogar völlig automatisch vor sich gehen. An der Tatsache, daß jeder beliebigen Aussage eine irgendwie geartete stilistische Spezifik anhaftet, ändert sich dadurch nichts.

Die weitverbreitete Formulierung „Stil = Erscheinungsart der Literatursprache“ ist abzulehnen, weil sie die Gren¬zen zwischen Sprache und Stil verwischt. Eine Erscheinungsart der Sprache kann qualitativ wieder nur Sprache sein (z. B. mündliche und schriftliche Erscheinungsart der Sprache). Stil ist aber schon eine neue linguistische Kategorie: zweckmäßig gestaltete Verwendnngsweise der Sprache.

Durch das Vorhandensein einer größeren Zahl von Stilen wird der Bestand der Nationalsprache keinesfalls erschüttert; im Gegenteil, durch die Herausbildung verschiedener funktional und expressiv bedingter Verwendungsweisen und durch ihre Gruppierung in gesetzmäßig geordnete, untereinander korrespondierende Stiltypen wird die Nationalsprache gestärkt und bereichert. Die Mannigfaltigkeit der funktionalen Stile wäre ohne Einheit der Nationalsprache undenkbar.

Trotz gewisser Verschiedenheiten, die beim Studium der Stilistik dieser oder jener Sprache nicht übersehen werden dürfen, läßt sich doch für das Wesen der funktionalen Stile aller Nationalsprachen die gleiche Bestimmung geben: es sind — nach V. W. Winogradow — «более или менее устойчивые, целесообразно организованные системы словесного выражения».

 
     
   

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