Auch die Epithetа (Beiwörter) gehören – wenigstens in ihrer überwiegenden Mehrzahl – zu den Mitteln der Bildhaftigkeit:Mit ihrer Hilfe entsteht vor dem geistigen Auge des Lesers, Hörers oder Gesprächspartners die Vorstellung von Farbe, Form, Klang, Geruch und anderen Sinnesempfindungen, aber auch die Vorstellung von auffallenden Eigenschaften und Merkmalen. Die Epitheta regen uns dazu an, einen Gegenstand oder eine Erscheinung in Gedanken zu malen, zu modellieren oder irgendwie darzustellen.
Im vorliegenden Lehrbuch wird – im Wiederspruch zu verschiedenen anderen in der Stilistik vertretenden Ansichten – folgende Auffassung des Epithetons verteidigt:
- Epitheton ist jede Merkmalbestimmung eines Substantivs, durch die der betreffende Begriff logisch-sachlich konkretisiert oder emotional eingeschätzt wird. Häufig sind im Epitheton die beiden genannten Funktionen vereinigt. (Demgegenüber steht die Meinung, als Epitheton könnten nur Attribute mit bewertendem Charakter gelten; man müsse sie gegen die grammatische Kategorie der sachlich-beschreibenden Attribute abgrenzen.)
- Das Epitheton erstreckt sich über alle Stile (entgegen der oftgehörten Ansicht, Epitheta kämen eigentlich nur in der schönen Literatur vor).
- Das Epitheton ist zum Verständnis des übergeordneten Substantivs mehr oder minder nötig, aber keinesfalls unentbehrlich (entgegen der noch aus der Antike stammenden Meinung, es gäbe “notwendige“ und „schmückende“ Beiwörter).
- Das Epitheton ist stilistischer Begriff, grammatisch ausgedrückt durch adjektivisches oder partizipiales Attribut (vor – und nachgestellt), durch Präpositionalattribut und Apposition, durch Prädikatsattribut und Attributsatz. Dazu kommt noch, daß in manchen Fällen das Bestimmungswort im zusammengesetzten Substantiv die Funktion des Epithetons versehen kann. (Manche Stilforscher setzen das Epitheton dem attributivischen Adjektiv gleich.)
Konkretisierende, in erster Linie logisch-sachliche Epitheta finden wir ausnahmslos in allen Stilen der schriftlichen und mündlichen Rede; Der Grad ihrer Bildhaftigkeit ist – je nach dem Kontext – bald stärker, bald geringer.
Alle genannten Epitheta dienen dazu, ihrer übergeordneten Begriff schärfer zu umreißen, ihn durch irgendeine mehr oder minder wichtige Merkmalsbestimmung deutlicher zu machen.
Selbst Epitheta im wissenschaftlichen oder offiziellen Stil tragen zur Verdeutlichung und näheren Erklärung des Gesagten bei.
Zwar vermitteln sie nicht Bildhaftigkeit, aber jedenfalls doch größere Klarheit des Sachverhalts und damit eine gewisse Anschaulichkeit.
Von starker Bildkraft sind – bei entsprechender Verwendung – die konkretisierenden Beiwörter im Stil der schönen Literatur. Aus ihnen lassen sich manche Rückschlüsse auf die literarisch-ästhetische Einstellung des Schriftstellers ziehen.
Es wäre aber zu wenig, wollten wir den konkretisierenden Beiwörtern bei (имß автора) nur die Funktion der naturnahen (und manchmal sogar naturkopierenden) äußeren Beschreibung zusprechen. Sie erfüllen auch künstlerische Aufgaben. Mit ihrer Hilfe schafft der Dichter die feinste Charakterzeichnung, die treffendste soziale Schilderung.
Bewertende, emotionale Epitheta sind solche, die in erster Linie die persönlichen Beziehungen des Sprechers zur Wirklichkeit offenbaren. Im Stil der Wissenschaft (geschweige denn im Stil des öffentlichen Verkehrs) kommen derartige Beiwörter seltener vor. Ihre Verwendung in diesem Bereich des Sprachverkehrs ist nicht finktional bedingt, sondern geht auf individuelle Stilmerkmale einzelner Verfasser zurück.
Eine Ausnahme bildet allerdings wieder die polemisch-wissenschaftliche Prosa; hier gilt das emotionale, bewertende Epitheton als Genremerkmal.
Überaus häufig werden die bewertende Epitheta in der Publizistik verwendet. Es genügt eine beliebige Nummer, eine beliebige Seite der “... Zeitung” aufzuschlagen, um zu verstehen, welche große Bedeutung dem kämpferischen Beiwort im Stil von (имя автора)…zukam. z.B.
Derartige Epitheta atmen Kampfgeist und Leidenschaft.
Der Stil der Alltagsrede ist in der Regel von bewertenden Beiwörtern stark durchsetzt. Man spricht von einem entzückenden Menschen, von einem schrecklich interessanten Roman, von einem Bombenerfolg (Bestimmungswort in der Funktion des Epithetons) usw. usf.
Besonders wichtig sind Epitheta, die die persönliche Einstellung des Sprechenden anzeigen, in der schönen Literatur. Sie offenbaren Sympathie und Antipathie zum Gegenstand der Rede, sie zeugen von Protest, Kampf und Leidenschaft. z.B.
Wie schon aus dem Vorangehenden ersichtlich, neigen die bewertenden, emotionalen Epitheta zu einer strukturell komplizierten Sprachform (vgl. unter diesem Gesichtspunkt die früher angeführten Zitate aus...)
In der Dichtung sind (etwa seit dem 18. Jahrhundert) zusammengesetzte Epitheta besonders beliebt; teils sind es kopulative Zusammensetzungen:
vertraut-bequeme Häuslein, in allerliebst-geselliger Einsamkeit (Goethe), teils Zusammensetzungen, in denen eine Komponente von der anderen abhängig ist: hochmastige, vollbesegelte Dichterwerke; der pfadverlierende Wanderer (Klopstock) u.a.m. ▲ |