Wortwitz


             
       
 
 
       
       
 
  Grammatik
   
     
   
     
     
 

Was die Fragesätze  betrifft, müssen wir, vom Standpunkt der Stilkunde aus, unterscheiden zwischen:

  1. echten Fragesätzen, d. h. solchen, die tatsächlich eine Antwort erfordern (sei es, dass der Gefragte die Antwort erteilt oder dass der Sprecher selbst ihm diese Mühe abnimmt), und   
  2. scheinbaren Fragesätzen, d. h. solchen, die von vornherein keine Antwort erfordern, weder vom Zuhörer noch vom Sprecher selbst.

Die Fragesätze der ersten Gruppe dienen dazu, den Angesprochenen oder den Leser zu einer Antwort herauszufordern, ihn in die Rede mit hineinzuverflechten. Die Mutter erzählt ihrem Töchterchen eine Geschichte: Es war einmal ein kleines Mädchen, dass sass den ganzen Tag allein zu Hause. Was machte es denn?

Da wartet die kleine Lauscherin nicht auf die Antwort der Sprechenden, sondern ruft selbst ihre Antwort dazwischen. Im Volkslied lesen wir:
Es reit’ der Herr von Falkenstein
Wohl über ein’ breite Heide.
Was sieht er an dem Wege stehn?
Ein Mädel mit weissem Kleide.

Noch ursprünglicher ist jene Form, wo als Antwort auf den Fragesatz eine Wiederholung desselben Fragesatzes erfolgt:
Hör an, mein Sohn, sag an mir gleich.
Wie ist dein’ Farbe blass und bleich? –
Und sollt’ sie nicht sein blass und bleich?
Ich traf in Erlenkönigs Reich.
(J. G. Herder. Übersetzung der dänischen Volksballade “Erlkönigs Tochter”.)

Auf Herausforderung einer Antwort beruht auch der Gebrauch der Fragesätze in der wissenschaftlichen Prosa, sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form. Wenn der Redner oder der Verfasser einer Schrift zu einem neuen Problem übergeht, beginnt er seine Ausführungen häufig mit einem Fragesatz, wodurch er seinen Hörer (oder Leser) in gewisse Antwortbereitschaft versetzt:
Was verstehen wir unter “erlebter Rede”? Unter “erlebter Rede” verstehen wir…

Die Verwändung von Fragesätzen als Einleitung zu einem neuen Gedankengang führt zu einer anschaulichen Gliederung der geschlossenen Rede und verhilft, den Gesamtkontext leichter zu überblicken.

In der Zeitschrift “Theater der Zeit” lautet die Überschrift einer ständigen Spalte:
Verstehen Sie das? – Wir nicht.

Diese Überschrift sticht durch ihre lebendig-umgangssprachliche Form von anderen Spaltenüberschriften ab (wie etwa: Lernen und Lehren, Blick ins Ausland u. a.).

Die zweite Gruppe von Fragesätzen bilden die Fragen, die keine Antwort erfordern: die scheinbaren oder rhetorischen Fragen. Ihrem Wesen nach stellen sie überhaupt keine Frage dar, sondern Behauptungen oder Ausrufe, getarnt in Frageform (Scheinfragen).
Weisst du was? (d. h. hör mal!)
Was soll diese Aufregung? (d. h. beruhige dich.)

Beide Fragesätze, gelesen mehr mit der Intonation des Ausrufe- und Aussagesatzes als des Fragesatzes, bleiben unbeantwortet. Die auf sie folgenden Sätze bringen keine Antwort, sondern Fortsetzung der Rede.

Eindringlich-mahnend klingt Bertolt Brechts Appell an den westdeutschen Bundestag (2. Juli 1956):
Gegen wen ist der dritte Krieg geplant? Gegen Franzosen? Gegen Polen? Gegen Engländer? Gegen Russen? Oder gegen Deutsche? Formal bleiben die auf den Leser niederprasselnden Fragen offen. Tatsächlich erübrigt sich aber jedwede Antwort; der Leser hört sie in all ihrer Schärfe aus der Fragestellung selbst heraus.

Bei der Besprechung der Satztypen sei noch ein Stilmittel erwähnt, das, in die Aussage-, Ausrufe-, Aufforderungs- und Fragesätze eingeschaltet, eine wichtige stilistische Funktion ausübt. Das ist die sog. rhetorische Ansprache (oder einfach: Ansprache, Anruf), die Wendung an das Publikum.

Die Ansprache ist ein ausgezeichnetes Mittel zur Herstellung des Kontakts zwischen dem Sprechenden und dem Hörer, zwischen Autor und Leser. Mit ihrer Hilfe wird das Publikum zur unmittelbaren Anteilnahme herausgefordert, zu einer Antwort- und Tatbereitschaft. Wir treffen diesen Stilgriff häufig in der wissenschaftkichen Prosa als fiktive Briefform; vgl. Lessing, “Briefe, die neueste Literatur betreffend”:
Wollen Sie einen andern kennenlernen, dessen geter Wille uns nun schon den zweiten englichen Dichter verdorben hat? – Verdorben klingt hart: aber halten Sie immer dem Unwillen eines getäuschten Lesers ein hartes Wort zugute.

In sämtlichen Kampfschriften (seien sie fiktive oder echte Briefe) benützt Lessing die direkte ansprache als strategische Basis der Diskussion. Er überschüttet seine widersacher bald mit gespielt-lebenswürdigen, bald mit vorwurfsvollen, spöttischen oder drohenden Einwürfen:
Ich wende mich also wieder zu Ihnen, Herr Pastor, und frage Sie nochmals… Und nun, Herr Pastor, sein Sie auf Ihrer Hut!… Wie, Herr Pastor? das wollen Sie gestatten? …Und inzwischen, Herr Hauptpastor, inzwischen haben Sie dennoch die Grausamkeit, Ihre Beschuldigungen zu wiederholen? in diesem geschärften Tone zu wiederholen? – Also sind Sie allwissend? Also sind Sie untrieglich [unfehlbar]? (Anti-Goeze.)

Zur Belebung des Vortrags greift auch der Redner gerne zur Ansprache, gleichsam um sein Auditorium zur aktiven Mitarbeit heranzuziehen:
Mancher von Ihnen wird jetzt denken…- ist Ihnen bekannt, dass…

In der Autorensprache der schönen Literatur dient der Anruf dazu, den Leser in den Bann der Ereignisse miteinzubeziehen:
Madame, kennen Sie das alte Stück? (H. Heine. Ideen. Das Buch Le Grand.)
Ich habe in der Tat, teure Dame, die Denkwürdigkeiten meiner Zeit… aufzuzeichnen gesucht. (H. Heine. Memoiren.)

Dass die Ansprache kein “rhetorischer Putz” ist, sondern ein wirksames Mittel, um die Darstellung des Ideengehalts zu unterstützen, kann man sehr gut an den Gedichten von Erich Weinert nachweisen. In der ersten Periode seines Schaffens verwendet er dieses Stilmittel hauptsächlich als architektonischen Abschluss. Das ganze Gedicht ist in erzählender Form gehalten – und plötzlich in der letzten Strophe eine jähe Wendung an den Arbeiter oder Bauer, eine Aufforderung zum Kampf:
Drum, Arbeiter, haltet euch bereit!
(Arbeitslose erster Klasse.)

In seiner späteren Dichtung, und insbesondere im Schaffen während des zweiten Weltkriegs, wird aber die Ansprache geradezu zum stilistischen Grungprinzip. Der Grossteil der Gedichte, vom Titel angefangen, ist als direkter Aufruf an das deutsche Volk gerichtet, z. B. “Denk an dein Kind”:
Die Stunde der Entscheidung naht.
Bist du noch blind?
Dein Feind steht nicht dort vorn, Soldat!
Die Heimat ruft, dich ruft die Tat!
Denk an dein Kind!

Dank der Ansprache erfolgt hier ein noch kräftigeres Aufrütteln aus der Apathie, eine noch kräftigere Aufforderung, die Waffen gegen den wahren Feind, den deutschen Faschismus, zu richten.

 
     
   

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