Individualstil


             
       
 
 
       
       
 
  Bestimmung / Individualstil
   
     
   
     
     
 

Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, werden durch die funktionalen Stile und ihre gleichfalls funktionalen Untergruppen, die Gattungsstile, allgemeine und besondere Gesetzmäβigkeiten in dieser oder jener Sphäre des Sphachverkehrs aufgestellt. Jeder Redestil bildet seine Normen heraus, denen zufolge die Verwendung bestimmter sprachlicher Erscheinungen in Lexik, Phraseologie, Grammatik und Phonetik geregelt wird. Wer sich eines bestimmten Stils bedient, muβ sich daher auch seinen Gesetzen fügen; mit anderen Worten: der Individualstil des Menschen ist auf jedem beliebigen Gebiet gesellschaftlicher Tätigkeit diesem oder jenem funktionalen Stil untergeordnet.

Unter “Individualstil” verstehen wir demnach die individuelle Verwendung allgemeiner und besonderer Gesetzmäβigkeiten, diktiert durch diesen oder jenen funktionalen Stil. Je nach der Spezifik des betreffenden Redestils wird dabei der Eigenheit des Sprechenden (des Schreibenden) mehr oder weniger Bewegungsfreiheit gelassen.

Im Stil des öffentlichen Verkehrs gibt es wenig Möglichkeit zum Durchbruch von Individualstilen. Um jedwede persönliche Note im Geschäfts- und Handelsleben auszuschalten, wurde in Banken und Börsen, im Postverkehr, Gerichtswesen u.  ä.  die Technik der genormten Vordrucke eingeführt (Formulare für Geldüberweisungen, Vollmachtserklärungen, Bestätigungen, Gesuche aller Art usw.).

Dem Individualstil eines Wissenschaftlers ist gewiβ bedeutend mehr Freiheit eingeräumt als dem Individualstil EINES Kaufmanns oder Gerichtsbeamten. Dennoch bleibt auch seine Verbindung mit den Normen des wissenschaftlichen Stils überaus streng geregelt.

Verhältnismäβig groβe Freiheit genieβt der Individualstil in der Publizistik. So hat der Reporter, sei es auf schriftlichem oder mündlichem Verständigungsweg, reiche Möglichkeit zur Entfaltung seiner persönlichen Eigenheiten. Und doch erkennen wir z. B.  den Sportansager im Rundfunk allein an der Intonationsart: an der heftig an- und abschwellenden Tonstärke, an der erregten Satzmelodie, an den unregelmäβigen Sprechpausen – mit anderen Worten: an den typischen funktionalen Gesetzmäβigkeiten der mündlichen Sportreportage.

Besondere Rechte und Freiheiten besitzt der Jndividualstil des Schriftstellers, Zu den stilistischen Grundbegriffen, die geklärt werden müssen, gehört die Former „Sprache und Stil des Schriftstellers“ (genauer: „Sprache und sprachlicher Individualstil des Schriftstellers") und ihre Abgrenzung gegen den Terminus „literarisch-künstlerischer Stil des Schrifsteller“.

Zunächst über Sprache und Stil des Schriftstellers: Hier handelt es sich um zwei aufs innigste miteinander verbundene, aber dennoch nicht identiche Erscheinungen. Unter der „Sprache eines Schriftstellers“ (oder eines literarischen Werkes) verstehen wir das „Baumaterial", das der Verfasser aus dem unendlishen Arsenal der Nationalsprache mit all ihren territorialen und sozialen Dialekten für  seine bestimmten Zwecke auswählt: einzelne Wörter und Wendungen, morphologiche Formen und syntaktische Konstruktionen, phonetiche Cegebenheiten verschiedener Art. Zur Sprache des Schriftstellers ferner alle lexischen und grammatischen Neubildungen entstanden auf Grund des objektiv gegebenen, allgemein zu Gebote stehenden Sprachgutes. Wenn wir nur die Sprache des Schriftstellers untersuchen, können wir uns wenigstens zun Teil — von den ideotogischen Faktoren (Zugehörigkeit des Autors zu einer bestimmten literarischen Richtung, ästhetische Einstellung u. ä) loslösen: in diesem Fall betrachten wir die Sprache des Schriftstellers in erster. Linie als Quellen- und Belegmaterial zur Untersuchung be­stimmter Erscheinungen in der Literatursprache einer be­stimmten Epoche.

Unter dem “sprachlichen Individualstil eines Schriflstellers" verstehen wir die individuelle künstlerische Ausdrucksgestaltung, die durch bestimmte Verwendung und Kombinierung des ausgewählten Baumaterials entsteht, ob es sich nun um das objektiv existierende allgemeine Sprachgut handelt oder um dessen schöpferische Aus- und Umgestaltung. Man könnte hier einwenden, daβ allein in der Auswahl dieses oder jenes Worles, dieser oder jener syntaktischen Konstruktion schon ein Anzeichen des Dichterstils zu sehen ist. Gewiβ, dennoch darf der Terminus „sprachlicher Individualstil des Schriftstellers” nicht in bezug auf einzelne Sprachelemente (Wörter, Wendungen, Formen, Konstruktionen, phonetische Erscheinungen) gebraucht werden, sondern erst auf ihre Gesamtheit im geschlossenen Ganzen. Wer den sprachlichen lndividualstil eines literarischen Werkes untersucht, darf sich nicht mit der Betrachtung einzelner Splitter begnügen; er muβ vielmehr das Zusammenwirken aller sprachlichen Komponenten im Auge haben, das Prinzip ihrer Auswahl, ihrer Anordnung und zweckentsprechenden Verbindung.

Der sprachliche Individualstil eines Dichters ist und bleibt — trotz der allergröβten Rechte und Freiheiten — den­noch den allgemeinen und besonderen Gesetzmäβigkeiten eines übergeordneten Stiltyps unterstells: den jeweiligen Normen des Stils der schönen Litratur und seiner literarischen Genrestile.

Zum Unterschied vom linguistischen Begriff “sprachlicher Individualstil des Schriftstellers" (in der Formel „Sprache und Stil des Schriftstellers") drückt der Terminus “literarisch-künsllerischer Stil” einen literartheoretischen Begriff aus. Der literarisch-künstlerische Slil eines Dichters oder ganzer literarischer Richtungen (z. B. des deutschen kritischen Realismus, des Naturalismus, der Romantik, der Klassik u. a. m.) stellt die Gesamtheit ihres ideologischen und sprach­lichen Ausdrucks dar, die Gesamtheit ihrer weltanschaulichen und ästhetischen Ansichten.

Der literarisch-künstlerische Stil offenbart die Methode des gesamten Schaffens und umfaβt folgende Einzelfaktoren: Sujet, Komposition, Charakteristik der handelnden Personen, Wahl und Verwendung der sprachlichen Ausdrucksmittel. Mit anderen Worten: Sprache und sprachlicher Individualstil sind eine Komponente des literarisch-künstlerischen Stils.

Zwischen dem sprachlichen Individualstil des Schriftstellers (“Sprache und Stil") und seinem literarisch-künstlerischen Stil herrscht ein kompliziertes Wechselverhältnis. Einerseits werden Sprache und sprachlicher Individualstil durch die gesamte Einstellung des Dichters diktiert. In der Wahl der einzelnen Wörter und Wendungen zum Ausdruck eines bestimmten Sachverhalts, in der Verwendung der Bilder (genauer gesagt: in der Art ihrer Verflechtung mit dem gesamten künstlerischen Gewebe), in der Gestaltung der Sprachporträts usw. usf. in all diesen Momenten spiegelt sich das literarisch-künstlerische Credo des Autors wider.

Andrerseits läβt sich aber nicht übersehen, daβ Sprache und sprachlicher Individualstil dazu verhelfen, die ideologische und künstlerische Einstellung des Dichters möglichst wirksam zun Ausdruck zu bringen, daβ Sprache und sprachlicher lndividualstil sozusagen akliven Anteil an der Propagierung bestimmter Gedanken nehmen. Je passender die Auswahl der Sprachmittel aus dem allen zur Verfügung stehenden Spracharsenal ist, je geschickter und treffender ihre Anwendung, ihre Kombination und Verteilung über das künstlerische Ganze hin, desto mehr Überzeugungskraft gewinnen die Ideen, die durch ate verkündet werden.

Es ist eins, einen Sachverhalt so zu formulieren, daβ der  andere gerade versteht, worum es sich handelt. Es ist etwas ganz anderes, diesen Sachverhalt so zu gestalten, daβ der Leser (Zuhörer) von ihm erregt, ergriffen, erschüttert wird. Auigabe des Stilforschers ist es nachzuweisen, wie ein glücklich gewähltes Epitheton, ein treffend durchgeführter Vergleich, eine anschaulich-farbige Metapher, ein am rechten Platz eingeschaltetes Sprichwort u. dgl. m. dem Ideengehalt der Rede besonderen Nachdruck verleihen; nachzuweisen, welche Schlagkraft dieser oder jener Wortwitz besitzt, welche emotionale Eindringlichkeit dieser oder jener syntaktischen Konstruktion anhaftet.

Aufgabe des Stilforschers ist es, zu zeigen, wie die richtige Wahl der sprachlich-stilistischen Mittel sowie das Prinzip ihrer künstlerischen Verwendung und Verteilung über das geschlossene Dichtwerk him auf die Gestaltung der Grundidee zurückwirken.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß bei der Erforschung von Sprache und Stil des Schriftstellers eine gewisse Berührung zwischen Stilislik und Literaturwissenschaft unvermeidlch ist.

 
     
   

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