Kurze


             
       
 
 
       
       
 
  Grammatik / Kürze
   
     
   
     
     
 

Im vorliegenden Kapitel soll der stilistische Ausdruckswert von Kurzsätzen in den verschiedenen Stilen der neueren deutschen Sprache besprochen werden, seien es unvollständige zweigliedrige Sätze (Überschreiten des Bahnkörpers verboten) und unvollständige eingliedrige Sätze („Von wo kommen Sie?“—„Vom Dorf.“) oder auch echte eingliedrige Sätze (Danke. Kein Stern auf dem Himmel. Dunkle/ Nacht.Ach! Hilfe!). Den Terminus „Ellipse“ gebrauchen wir synonym zu „unvollständiger Satz“ und antonym zu „echter eingliedriger Satz“.

Sämtliche Gruppen und Untergruppen von Kurzsätzen, so verschieden sie auch ihrem Ursprung und ihrer gegenwärtigen Verwendung nach sein mögen, haben eins miteinander gemein: die Knappheit des Ausdrucks, die Sprachökonomie. Die Ursachen dieser Sparsamkeit hängen von der Spezifik des betreffenden Stils und von der Sprechsituation ab.

Zunächst betrachten wir die Kurzsätze, die ein unentbehrliches grammatisches Merkmal ihres funktionalen Stils bilden. Wir beginnen mit dem Stil des öffentlichen Verkehrs. Hier dienen elliptische und echte eingliedrige Sätze zur Formulierung sachlicher, offizieller Mitteilungen auf Schildern, Tafeln und Wegweisern:
Wegen Renovierung geschlossen.— Sprechstunde täglich von 10—12 Uhr außer Sonntag.
Aufnahmekanzlei.— Wartesaal III. Klasse.— Zur Kasse.

Auch aus militärischen Kommandos ist der Kurzsatz nicht wegzudenken. Sein Gebrauch erklärt sich aus der Eigenart des Befehlstons. Die übertriebene Verwendung von Ellipsen und eingliedrigen Sätzen führte jedoch zur berüchtigten „schneidigen“ Sprechweise des preußischen Offiziers, über die H. Mann im „Untertan“ spottet:
Verkaufen, was? Klemme, was?...— Quatsch. Weiß Bescheid. Nur keine Fisimatenten [Ausflüchte]. Höherer Befehl. Schnauze halten und verkaufen, sonst gnade Gott.

Sobald in der deutschen Literatur die Sprachporträts von Vertretern des Adels und Hochadels sowie von typischen Offizieren der alten preußischen Armee gegeben werden, greift man — als charakteristisches Merkmal ihrer Rede — sofort zu Kurzsätzen (oft absichtlich übertrieben) und abgehackten Satzgruppen. Bei Theodor Fontane sehen wir z. B. ein Gespräch zwischen dem König und einer adeligen Dame:
Frau von Carayon? Mir sehr wohl bekannt... Erinnere
Kinderball... Schöne Tochter... Damals... Und etwas weiter:
Köckritz [Name eines Generals] mir eben Andeutungen gemacht... Sehr fatal... Aber bitte ... sich setzen, meine Gnädigste... Mut... Und nun sprechen Sie. (Th. Fontane. Schach von Wuthenow.)

Der zeitgenössische Satiriker Alf Scorell trifft im Roman „Große Fische — kleine Fische“ tatsächlich ins Schwarze, wenn er eine seiner Gestalten, Herrn von Wallrabe, im „sanften Knarrton“ sagen läßt (der Roman spielt in Westdeutschland: Herr von Wallrabe, ein Oberst a. D. aus der alten preußischen Armee, soll eben einen wissenschaftlichen Bericht entgegennehmen):
Bitte kurz. Zeit drängt, in Stichworten wie militärische Meldung, ist besser so.

Eine bis auf die Spitze getriebene Verwendung von Kurzsätzen aller Erscheinungsformen war auch für die Sprechart faschistischer Amts- und Militarpersonen kennzeichnend. Übermäßige sprachliche Kürze sollte zum „zackigen” Ton verhelfen. Unzählige Beweise dafür liefern die Sprachporträts verschiedenster Naziführer in sämtlichen antifaschistischen Romanen.

Funktional genormt sind ferner die Kurzsätze in der Handelskorrespondenz. Wie bekannt, wird im Geschäftsbrief das Personalpronomen der 1. Person in Briefeingängen ausgelassen:        .
Habe Ihren werten Brief erhalten... Teile Ihnen mit...

Wenn eine solche Formulierung als sprachökonomische neutrale Norm des Geschäftsstils aufgefaßt werden darf, so gilt die Ellipse des Ich in der Mitte des Satzes als unzulässiger Ausdruck kaufmännischer Überhöflichkeit und Beflissenheit:
Hiermit gestatte mir die Anfrage...

Diese elliptische Fügung ist schon wegen ihrer grammatischen Unschärfe (Verwechslungsmöglichkeit mit dem Imperativ) abzulehnen.

Auch für den wissenschaftlichen Stil gelten bestimmte Kurzsatzklischees als anerkannte Normen. Sie verleihen der Darstellung nüchterne Sachlichkeit und Unpersönlichkeit:
Hier ein Beispiel für...
Und nun zur Besprechung einer wichtigen Frage...
Sehr häufig stoßen wir auf die Ellipse des Hilfsverbs in den Wendungen: wie schon gesagt; wie schon früher ausgeführt. Echte eingliedrige Sätze sind die Klischees: siehe.. vgl. ...

Beim Studium wissenschaftlicher Werke empfiehlt es sich, die Notizen zum großen Teil in Kurzsätzen anzulegen; dies entspricht auch den Stilnormen einer Vorlesungsniederschrift. Die Knappheit des Ausdrucks verhilft, die Grundgedanken des Gelesenen oder Gehörten logisch-plastisch herauszuarbeiten.

Ein erschütterndes Beispiel für Sprachökonomie beim Aufzeichnen von Notizen — über die Taktik seines Auftretens im bevorstehenden Prozeß — sehen wir im Tagebuch von Ernst Thälmann:
...immer und immer in Offensive gehen, das ist der beste Hieb... im Gerichtssaal verteidige ich mich selbst. Aus Verteidigung in Offensive gehen. Verteidigung mit Offensive verflechten, elastisch, aber unzweideutig... Kühnstes Auftreten selbst auf die Gefahr des Ausschlusses... denn je kühner, desto mehr Echo in der Welt... (E. Thälmann. Bilder und Dokumente aus seinem Leben).

Der Kurzsatz findet ferner genormte Verwendung im Stil der Publizistik und Presse. Vorwiegend elliptisch ist z. B. der Satzbau des amtlichen Wetterberichts in der Zeitung:
Bei etwas auffrischenden südlichen Winden anfangs heiter, im Laufe des Tages Zunahme der hohen lockeren Bewölkung. Im ostelbischen Gebiet aber noch niederschlagsfrei. In Thüringen nachmittags und abends örtlich gewittrig. Höchsttemperaturen bis nahe 25 Grad, im Gebirgsvorland ansteigend.

Die Überschriften in der Zeitung sind zum großen Teil in Kurzsätze gefaßt, so etwa die echten eingliedrigen Sätze bei Spaltentiteln:
Kulturmosaik.—Kleine Marktinformation.— Stellenangebote.  

Bei elliptischer Formulierung bringt gewöhnlich die Überschrift die Quintessenz des Gesagten:
Für eine Welt ohne Bombe.— „Schwarze“ Woche an den westlichen Börsen.

Oder aber sie enthält eine Bemerkung, die erst verständlich wird, nachdem man die betreffende Nachricht gelesen hat. Wenn der Leser eine Überschrift, wie etwa Schluß damit, überfliegt, so erwacht seine Neugier: Womit soll Schluß gemacht werden?

Wie aus diesem Beispiel ersichtlich, hängt die Expressivität der Kurzsatzformulierung bei Überschriften weniger von der grammatischen Spezifik als hauptsächlich von inhaltlich-lexikalischen Momenten ab. Dasselbe gilt für Zeitungsinserate (Reklame).

Hingegen beruht die Expressivität des folgenden Beispiels (wissenschaftliche Prosa mit kämpferisch-polemischer Stilfärbung) zum großen Teil auf der sprachlichen Form der Kurzsätze. Hieb auf Hieb, Schlag auf Schlag prasseln hernieder. Für das Rededuell eignet sich als grammatisch-stilistisches Äquivalent eben der Kurzsatz. So ruft G. E. Lessing seinem Gegner zu:
Besser? Ja und nein. Denn besser ist Beziehungswort, und der Beziehungen sind wenigstens hier drei. Es kann besser sein in der einen, und schlimmer in der andern. Für wen besser? Für den Menschen selbst, der da weiß? — oder für das, was er weiß — Oder für die, denen zum besten er wissen soll? (Anti-Goeze.)

 
     
   

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